Alltag

Schlaf, Kindlein schlaf

„Lieber Schlaf, ich weiß, wir hatten unsere Differenzen. Als Kind habe ich Dich nicht so geschätzt. Aber jetzt würde ich gerne wieder mehr Zeit mit Dir verbringen.“

Seit ich Kinder habe, habe ich am eigenen Leib erfahren, dass Schlafentzug eine Foltermethode ist. Dass Babys häufig nachts aufwachen, trinken und die Windeln gewechselt werden müssen, war mir durchaus vorher bewusst. Aber was es bedeutet, nachts stundenlang mit einem schreienden Baby auf dem Arm im dunklen Zimmer auf- und abzuwandeln und es nicht beruhigen zu können, mit den Nerven völlig am Ende zu sein und nicht zu wissen, wie man den nächsten Tag überstehen soll, das konnte ich nicht erahnen. Das weiß man erst wenn man es am eigenen Leib erfahren hat. Dieses Gefühl von Ohnmacht, nichts tun, keinen klaren Gedanken schöpfen zu können, einfach nur schlafen zu wollen und es nicht zu dürfen. Kinder können so graumsam sein. Ohne es zu wissen bringen sie ihre Eltern an den Rand der Verzweiflung. Aus dem lang ersehnten Wunschkind und dem süß eingerichteten Babyzimmer wird das persönliche Guantanamo mit seinen eigenen Regeln.

Nun ist Marie nicht mein erstes Kind, und ihr größerer Bruder war bei weitem kein gute Schläfer. Auch bei ihm legte ich mich abends mit ihm zusammen schlafen, um so viel Schlaf wie möglich bis zum ersten Erwachen zu erhaschen. Drei bis fünf Mal in der Nacht wachte er in den ersten zwei Lebensjahren auf, am besten schlief er noch bei uns im elterlichen Schlafzimmer. Aber zumindest ließ er sich in der Regel recht schnell wieder beruhigen, war mit Milch, Schnuller oder kurzem Beruhigen zufrieden.

Bei Marie war alles anders. Sie war ein Baby, das sich kaum beruhigen ließ. Stillen war das eine, dieses Bedürfnis war einfach zu erfüllen. Aber Marie war nachts stundenlang war – ohne für mich erkennbaren Grund. Wollte ich sie in den Arm nehmen, stieß sie mich weg. Dabei schrei sie nicht etwa ununterbrochen, sondern kämpfte durchaus mit sich selbst und versuchte erbittert, wieder einschlafen zu können. Sie wälzte sich hin und her, dann wimmerte sie, schließlich weinte sie. Ich versuchte sie zu beruhigen – ohne Worte, denn sie konnte mich ja als noch unimplantiertes Baby noch nicht hören. Also streichelte ich ihr über den Rücken, über den Kopf, kuschelte mich an sie, damit sie meine Nähe spüren konnte. Manchmal half es, manchmal nicht. Es war auch nicht so, dass sie tagsüber etwa zu viel Schlaf bekam und dadurch nachts munter war. 20 Minuten am Vormittag, 20 Nachmittag am Nachmittag. Wo andere Babys seelig in ihren Kinderwägen schlummerten, fand Marie den ihren von Anfang an blöd. Am liebsten mochte sie ihre Trage, da war die Wahrscheinlichkeit am höchsten, dass sie irgendwann einschlief. Aber ansonsten genoss sie es, von dort aus alles zu beobachten.

Wie andere betroffene Eltern stelle natürlich auch ich mir die Frage, was ich falsch machte. Man soll ja v.a. die Tagesroutine verändern, damit sich nachts etwas verbessert. Doch natürlich hatten wir unsere Routine, unseren Rhythmus, unser Schlafritual. Als zweites Kind war Marie von Anfang an an einen bestimmten Tag-Nacht-Rhythmus gewöhnt, viel mehr als ihr Bruder, der als Erster weit mehr Flexibilität gewohnt war. Gespräche mit der Hebamme oder dem Kinderarzt offenbarten mir auch keine wirklichen bahnbrechenden Erkenntnisse. In ein Schlaflabor wollte ich auf keinen Fall – von Kliniken hatte ich genug und würde ich noch genug sehen. Ich war mir auch sicher, dass es bei Marie kein körperlches Problem wie Atemaussetzer oder Schluckprobleme waren.

Vielmehr vermutetete ich, dass ihre Gehörlosigkeit – gepaart mit ihrem generellen Temperament – eine Ursache für ihre Schlafprobleme waren. Durch den Austausch mit anderen Eltern gehörloser Eltern, die ähnliches berichteten, fühlte ich mich darin bestätigt. Ein hörendes Kind kann man durch die Stimme beruhigen, ihm ein Schlaflied zum Einschlafen vorsingen, Schschsch… zuflüstern. Ein nicht-hörendes Kind reagiert darauf nicht. Intuitiv konzentrierte ich mich auf den Körperkontakt zu ihr. Aber leider reagierte Marie auf körperliche Nähe sehr widersprüchlich. Mal schmiegte sie sich an mich, mal stieß sie mich davon, was mich als ihre Mutter sehr verunsicherte. Sollte nicht gerade sie als taubes Baby umso mehr nach Körperkontakt verlangen? Stimmte irgendetwas nicht? Ob Marie mit Nachtlicht oder ohne schlief, hatte keine Auswirkungen. Ich verbannte sämtliche elektronische Geräte aus den Schlafzimmern und vermutete schon eine vermeintliche Wasserader unter unserem Haus.

Besonders schlimm war es in den Wochen nach den OPs. Marie wurde mit zehn und 13 Monaten implantiert, und auch wenn sie die Eingriffe insgesamt sehr gut verkraftete, schienen die Narkosen sie innerlich aufzuwühlen. Ich bemerkte nachts bei ihr zunhemenden Reflux, doch weder der Kinderarzt noch der Anästhesist sahen hier einen Zusammenhang. Um irgendetwas tun zu können, wandte ich mich an eine Heilpraktikerin. Mit entsprechenden Globuli wollten wir das Gift der Narkose aus ihrem Körper schwemmen. Mir ist bewusst, dass es für die Wirksamkeit homöopathischer Präparate keine wissenschaftlichen Belege gibt. Aber versuchen wollte ich es auf jeden Fall. Ob es daran lag, an dem neu zugelegten Kräuterkissen oder einfach an der vergehenden Zeit – nach einigen Monaten wurde es besser. Aber jeder, der auch nur ein paar schlaflose Nächte hinter sich hat, weiß, was es heißt, täglich am Rande seiner Kräfte zu sein, tagsüber zwei Kleinkinder bespaßen zu müssen und sich zudem halbwegs im Straßenverkehr zu bewegen. Schön ist was anderes.

Durch den langjährigen Schlafentzug habe ich zunehmend Probleme – trotz aller Übermüdung – nach einem nächtlichen Wecken wieder einschlafen zu können. Man sollte meinen, dass sich der Körper jeden Schlaf holt, den er kriegen kann. Aber nicht selten lag ich in Nächten, in denen Marie irgendwann wieder einschlief, selbst noch stundenlang wach, bettelte um den dringend benötigten Schlaf, der sich nicht einstellen wollte.

Inzwischen ist Marie fast vier, schläft immer noch kaum eine Nacht durch, aber bei weitem besser als in ihren ersten zwei Lebensjahren. Unser Ehebett wurde zu beiden Seiten erweitert – eine pragmatische Lösung, damit wir alle mehr Schlaf bekommen. Die Kräuterkissen liegen mittlerweile in allen Betten verteilt. Einen wirklichen Ratschlag für andere Eltern, die ähnliches durchmachen, habe ich leider nicht. Irgendwann wird es besser. Ganz bestimmt!

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