Ich habe kürzlich einen Essay in „DIE ZEIT“ gelesen, der mich sehr berührt hat. Der Essay trug den Titel „Was spendet noch Trost?“[1], verfasst von einem kanadischen Historiker und Schriftsteller namens Michael Ignatieff.
Er beginnt damit, dass er schildert, wie er „einem alten Freund Gesellschaft“ leistet, „der vor sechs Monaten seine Frau verloren hat“. Der Freund „will nicht, dass […er] seine Zeit mit Aufmunterungsversuchen verschwende. Also sitzen […sie] schweigend da.“ Ignatieff stellt fest: „Er braucht meinen Rat nicht […].“
Während der Autor im Verlauf seines Essays über Möglichkeiten und den Sinngehalt von „Trost“ in unserer heutigen durchakademisierten Welt philosophiert, dessen Stellenwert und Möglichkeiten in einem anthropologischen, religiösen und sozialen Kontext analysiert, zieht er eine feine Linie zum Begriff „Beistand“. „Trost ist etwas anderes als Beistand. Beistand nimmt viele Formen an, einen Blick, eine Umarmung, ein Stück Kuchen. Beistand leisten kann man ohne Worte, Trost aber beruht in Aussagen, den Sinngehalten, die uns helfen, Leid und Verlust zu ertragen.“
Warum ich das schreibe? Ich habe zwar glücklicherweise keinen Trauerfall eines mir nahestehenden Familienmitglieds beklagen müssen, aber ich habe getrauert. Ich habe getrauert um mein Baby, dem es nicht vergönnt war, zu hören. Ich habe getrauert, weil ich um die Freude gebracht wurde, die man eigentlich über die Geburt seines Kindes empfinden sollte. Ich habe getrauert, weil meinem Kind all die Töne und Klänge dieser Welt verwehrt bleiben sollten. Damals wusste ich noch nichts von den Möglichkeiten des CIs. Ich habe mich gefürchtet vor dem, was auf mich zukommt. Ich habe mich gefürchtet vor dem, was auf mein Kind zukommen wird. Noch im Wochenbett malte ich mir ihren ganzen möglichen Lebenslauf aus, angefangen von einer Schullaufbahn auf einer Förderschule bis hin zu einem eintönigen Job, der ihr keine Freude bereitet. Ein bisschen viel auf einmal, aber diese Bilder überkamen mich, ob ich wollte oder nicht.
Was spendete mir Trost?
Eine frisch entbundene Mutter, die einen Tag nach der Geburt ihres Kindes erfährt, dass dieses möglichweise taub ist, kann man nicht trösten. Das hat nichts zu tun mit Wochenbett-Depression, Baby-Blues oder emotionaler Überforderung. Es ist einfach Trauer, die einen durchflutet. Diese Trauer kommt in Wellen und erstickt das Gefühl der aufkommenden Liebe, die für dieses zarte Leben eigentlich wachsen sollte. Auch Schuldgefühle schlichen sich ein: Was habe ich falsch gemacht? Warum konnte ich mein Baby nicht beschützen? Aber auch: Warum kann ich mein Baby nicht einfach nur lieb haben? Warum dominiert diese negativen Gefühlsmischung aus Trauer, Sorge und Angst?
Was hat mir in dieser Zeit geholfen? War es Trost?
Nein, ich wollte keinen Trost! All diese gut gemeinten Aufmunterungsversuche von „Es hätte schlimmer sein können“ über „irgendwann kann man das sicher reparieren“ bis „vielleicht hört sie doch was“ wollte ich nicht hören. Ich wusste natürlich, dass es hätte schlimmer kommen können. Ich wusste, fühlte, spürte aber auch, dass sie nichts hört. Und ich fand, dass es mir zustand, darüber traurig zu sein. Musste ich denn gute Miene zum bösen Spiel machen? Durfte ich nicht einfach traurig sein? Wenn man in so einer Situation nicht traurig sein darf, wann dann? So war das doch alles nicht geplant! Warum ausgerechnet wir, unsere Tochter? Das hatte sie – und wir – doch nicht verdient!
Wie gut tat mir der Anruf einer lieben Freundin, die sich um mich sorgte und die am Telefon mit mir weinte, meinen Schmerz verstand und ihn mit mir teilte. Sie versuchte nicht, mich zu trösten. Das war das beste, was sie machen konnte. Sie leistete mir einfach „nur“ Beistand.
„Zu trösten ist schwer, weil es eine metaphysische Aufgabe ist, aus Trauma und Verlust einen Sinn für die Leidenden zu ziehen“, schreibt Ignatieff. Das ist der springende Punkt! Was kann es für einen Sinn haben, wenn ein Kind durch einen Virus seines Gehörs beraubt wird? Keinen! Dank moderner Medizintechnik gibt es dafür zwar eine Lösung, aber diese wird nie so gut sein wie das Original.
Am Anfang wollte ich keinen Trost. Ich wollte, nein, ich musste meine Trauer durchleben. Diese Trauer wurde mit der Zeit kleiner. Aber ich wunderte mich, dass ich sie doch so lange mit mir herumtrug. Auch als ich schon längt von dem CI und seinen Möglichkeiten gehört hatte. Ich trug sie auch noch mit mir herum als wir längst die Entscheidung zur Implantation getroffen hatten.
Neben der Zeit, die fast alle Wunden heilt, half mir die Aussicht auf eine Lösung, mit der ich leben konnte. Und mir half, dass ich etwas tun konnte. Ich würde mich selbst als pragmatische, anpackende Frau beschreiben, die eher zu übertriebenem Aktionismus neigt als zu passivem Hinnehmen. Es galt viele Entscheidungen zu treffen – angefangen von der antiviralen Therapie gegen das cm-Virus bis hin zur Entscheidung für das geeignete Implantat.
Mit der Zeit war die Trauer nicht mehr allgegenwärtig. Sie dominierte bei weitem nicht mehr meine Gefühle. Aber sie war immer wie ein feiner Schleier, den ich nicht abstreifen konnte, dabei. War ich etwa undankbar? Ich habe zwei gesunde Kinder, die mich brauchen und die ich über alles liebe. Ich habe einen liebevollen Mann, der meine Trauer mit mir teilt, eine Familie und Freunde, die für mich da sind. Ich merkte in glücklichen Momenten ganz bewusst, dass ich wieder glücklich sein konnte. Wahrscheinlich ist man sich dessen nie so ganz bewusst, aber in diesen Momenten war es fast als würde ich neben mich treten und mich selbst dabei beobachten wie ich wieder lachen konnte. Auch das ging mit der Zeit vorbei. Inzwischen kann ich wieder herzhaft lachen, tanzen und das Leben genießen. Ich sehe meine Kinder wie fröhlich sie sind und das Leben umarmen. Warum soll ich dann nicht auch fröhlich sein?
Ja, es gibt sie immer noch, diese Momente, in denen ich mich frage, warum ausgerechnet mein Kind: Im Schwimmbad, wenn ich hunderte Kinder sehe, die kein CI tragen müssen, um das Plätschern des Wassers zu hören und mit ihren Freunden herumtollen können. Oder in einer Theateraufführung für Kinder, bei der alle anderen Kinder die Handlung verstehen und dem Kasperl erklären können, was der böse Zauberer gesagt hat. Mir graut vor dem Moment, wenn meine Tochter alt genug sein wird mich zu fragen, warum sie „anders“ ist als die meisten ihrer Altersgenossen. Diese Momente, Gefühle und Sorgen werden nie ganz verschwinden. Aber sie dominieren nicht mein Leben, mein Denken, mein Handeln. Sie sind seit Geburt meiner Tochter ein Teil von mir und ich kann damit leben. Sehr gut sogar. Dieser Gedanke spendet Trost.
[1] „Was spendet noch Trost?“, Essay von Michael Ignatieff in „DIE ZEIT“ Nr. 3 vom 09. Januar 2020, S.50-51