Marie

„Aber sie hört doch ganz normal, oder?“

Marie ist jetzt 4 1/2 Jahre. Seit einem Jahr geht sie in den örtlichen Kindergarten, als I-Kind in eine Gruppe von 23 normalhörenden Kindern. Sie kommt sehr gut zurecht, hat ihren Platz in der Gruppe gefunden. Sie geht jeden Tag sehr gerne in den Kindergarten, spielt mit ihrer besten Freundin, tobt, lacht und macht Quatsch. Alles altersgerecht, alles „ganz normal“.

Ach, das ist ja toll, sie hat ja gar keine Probleme“ sagen mir Viele. „Dann kann sie ja auch auf eine ganz normale Schule gehen„, höre ich oft. „Sie redet ja ganz altersgerecht“ ist auch so ein Satz…

Eigentlich sollte ich mich darüber freuen. Denn ja, es klappt wirklich gut. Marie steht mit beiden Beinen selbstbewusst im Leben. Sie ist ein mutiges, selbstbewusstes Mädchen, das sich durchsetzen kann und kaum schüchtern ist. Zum Glück ist sie so. Denn ich als Mutter merke sehr wohl ihre Schwierigkeiten und die täglichen Herausforderungen, denen sie sich stellen muss. Ich merke, wenn sie gesprochene Sätze nicht ganz versteht oder gewissen Zusammenhängen nicht richtig folgen kann. Ich sehe den fragenden Blick, registriere, wenn sie sich im Kopf „zusammenreimt“, um was es gerade geht, wenn sie auditive Verständnislücken mit semantisch logischen Inhalten füllt. Ich registriere genau, wie sie andere Kinder beobachtet, was sie machen und es ihnen nachtut. Bei der Kasperlaufführung lacht sie nicht zwangsläufig über den Witz des Kasperls, nein, sie lacht etwas zeitversetzt wenn andere Kinder lachen. Wird eine Geschichte im Kindergarten vor der ganzen Gruppe vorgelesen, kann sie mir erzählen welche Figuren vorkommen, aber sie kann mir meistens nicht erzählen, was genau in der Geschichte passiert. Lese ich ihr abends vor dem Zubettgehen eine Gute-Nacht-Geschichte vor, ist es wichtig, dass ich bei den Bildern  mit dem Finger auf diejenige Figur deute, die gerade spricht, damit sie es versteht. Bilder sind sehr wichtig für Marie, deshalb sind nach wie vor Bücher mit nur wenig Bildern ungeeignet. Hörspiele gehen gar nicht, da kann sie offenbar nicht folgen. Fernsehen liebt sie – welches Kind tut das nicht? – aber ich habe das Gefühl, dass für sie die Dimension des Sehens nochmal wichtiger ist als z.B. für ihren Bruder. Der hat in ihrem Alter schon längst längere Hörbücher und -spiele rauf und runter gehört.

Auch bei Liedern, und seien es noch mit so einfachen Refrains, tut sie sich nach wie vor schwer. Aus der „Micky Maus“ ist zwar inzwischen der „Nikolaus“ geworden, aber bei nahezu allen Kinderliedern bekommt sie nicht mal die Refrains richtig zusammen. Zum Glück scheint sie das aber überhaupt nicht zu stören. Sie schmettert zwar ziemlich schief und falsch „Laterne, Laterne“, ignoriert aber ihren großen Bruder, der sie korrigieren will, ebenso wie ihre Freundin. „Ich darf singen wie ich will!“ Recht hat sie! Aber mein besserwisserisches Mutterherz fühlt natürlich den Unterschied, ob man etwas bewusst falsch singt weil es anders einfach lustiger ist oder weil man es nicht richtig versteht.

Was ich mit diesen Beispielen zum Ausdruck bringen möchte?

Man sollte nie, nie vergessen, dass es sich bei einem mit CI implantierten Kind um ein gehörloses Kind handelt, das nur dank moderner Technik im Stande ist, „etwas“ zu hören. Mit CI hört man nicht normal.

Ich als normal hörende Mutter werde mich nie gänzlich in sie hineinversetzen können, wie das Hören für sie wirklich ist. Und auch wenn es natürlich schön ist, wenn Außenstehende bewundernd feststellen, dass man Marie ihre Hörschädigung nicht anmerkt, birgt das doch auch Gefahren. Noch hat sie im Kindergarten eine gewisse Schonfrist. Genau so wenig wie sich Jemand mit Rollstuhl barrierefrei fortbewegen kann, auch wenn er gut mit seinem Hilfsmittel zurecht kommt.

„Funktioniert das Gerät dann nicht so wie es soll?“ hat mich neulich eine Bekannte gefragt als ich ihr zu erklären versuchte, dass Marie eben nicht so hört wie wir. In solchen Situationen tue ich mir zugegebenermaßen schon etwas schwer. Immer öfter fällt mir auf, wie schwer sich auch Normalhörende mit dem Zuhören tun. Oft nimmt sich mein Gegenüber nicht einmal die Zeit, meine Antwort anzuhören. Mit einem einfachen „Ja“ oder „Nein“ ist es halt nicht getan wenn ich zu erklären versuche, dass das menschliche Ohr ein sehr komplexes Organ ist, deren Perfektion durch eine technische Nachbildung nie gänzlich erreicht werden kann. Dann macht es mich in der Tat traurig, denn ich habe dann das Gefühl, dass das Interesse nur geheuchelt, nicht echt ist. Vielleicht tue ich meinem Gegenüber auch unrecht. Aber in machen Situationen finde ich es einfacher ehrlicher, auch mal zuzugeben wenn man keine Ahnung hat, einfach nur zuhört und dann – statt beschönigender Worte – ehrlich zugibt:

Ja, Marie wird es immer schwieriger haben als andere Kinder. Das ist mir bewusst. Aber sie macht es dafür ganz wunderbar!

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2 Kommentare Neues Kommentar hinzufügen

  1. Sie ist auch einfach ganz wunderbar ❤️ Und sie wird ihren Weg gehen – mit euch an ihrer Seite bzw. immer hinter ihr!

  2. Macht euch keine Sorgen. Wir CI-Trägerinnen hören tatsächlich anders, aber das bedeutet nicht, dass es im Leben schlechter funktioniert. Wie jeder Mensch müssen wir unseren Weg suchen, auch wenn unsere Methoden manchmal anders sind als bei anderen. Als erwachsene CI-Trägerin mit Abitur und abgeschlossenem Studium weiß ich heute, dass ganz viel von der Akzeptanz des Umfeldes abhängt. Wer geliebt wird, kann sich selbst so nehmen wie er/sie ist. Und die CIs manchmal abmachen dürfen ist Erholung pur für angestrengte Ohren (am besten geht dann Gebärdensprache). 🙂 Wünsche viele gute, schöne, lustige und angenehme Hörerfahrungen für die Kleine.

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